Kurdistan: Hasankeyf, Wiege der Menschheit

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1Vier unserer Genoss*innen vom LAK Hêvî bereisen derzeit Kurdistan, um das Projekt der demokratischen Selbstverwaltung in und um Rojava aus nächster Nähe kennen zu lernen. Im Folgenden findet ihr ihren zweiten Reisebericht:

Seit Jahrtausenden steht Hasankeyf für den Beginn der Zivilisation – über 23 Kulturen haben hier ihre Einflüsse hinterlassen. Vor allem in der kurdischen Geschichte ist es eine der zentralen Kulturstätten.

Dieser besinnliche und wunderschöne Ort soll aber nun nach dem Willen der türkischen Regierungspartei AKP Regierung nicht länger existieren. Vierzig Kilometer flussabwärts wird der Ilisu-Staudamm gebaut, der für die   gesamte Region katastrophale Auswirkungen hat.

Im Jahr 2008 begann man den Bau mithilfe staatlicher Unterstützung aus Österreich, Schweiz und Deutschland. Nach massiven Verstößen gegen internationale Vorgaben zum Schutz der Kulturgüter, der Umwelt und der betroffenen Anwohner_innen gab es massive Proteste in den jeweiligen Ländern und dem Projekt wurde die Kredite entzogen. 2010 jedoch erklärte Staatspräsident Erdoğan die Finanzierung für gesichert und die Bauarbeiten wurden wieder aufgenommen.

Doch obwohl der Staudamm schon fast fertig gestellt ist, geben die Menschen aus der Umgebung nicht auf. An die 70.000 Menschen sind durch Zwangsumsiedlung oder die Überschwemmung ihrer Felder betroffen. Der künstliche See soll eine Fläche von 313km² erreichen und zerstört auf einer Länge von 400km den normalen Verlauf des Tigris und seine Umgebung. Die türkische Regierung tut alles, um die Proteste vor Ort klein zu halten oder gleich im Keim zu ersticken.
So wurden z.B. bei den letzten Kommunalwahlen 50 Personen aus dem Wahlregister entfernt und es kam zu ominösen Stromausfällen, um den Einzug der links-kurdischen Partei der Völker (HDP) ins Rathaus zu verhindern. Nicht zuletzt durch die Stimmabgabe der zahlreichen in der Region stationierten Sicherheitskräfte verpasste die HDP die absolute Mehrheit mit nur 8 Stimmen.

Wie so oft in der Türkei werden Demonstrationen gegen diese rücksichtslose Staatspolitik von der Polizei hart attackiert. „Wir haben ein Abo auf Tränengas“, meint ein Genosse in Batman, der uns davon berichtet, dass vor kurzem auch die Newroz-Feierlichkeiten von der Polizei grundlos attackiert wurden. Erst seit sich im letzten Jahr türkische Prominente dem Protest anschlossen, gingen die Angriffe auf Proteste gegen den Staudämmen zurück.2Mit zunehmender Fertigstellung des Staudamms radikalisieren sich selbstverständlich auch einige verzweifelte Bewohner_innen des Tals. So kam es zu mehreren Anschlägen auf Bauffahrzeuge, woraufhin viele Arbeiter_innen aus Angst kündigten und die Errichtung somit ein paar Tage hinausgezögert werden konnte.

Allerdings haben bereits viele Menschen eine staatliche Entschädigungszahlung von 30.000€ angenommen und sind freiwillig weggezogen. Diese vermeintlich hohe Summe reicht jedoch nicht, sich ein neues Zuhause aufzubauen. Die meisten Menschen zieht es in die Großstädte – doch dort haben die sie keine Perspektive, wie uns Cihan aus Hasankeyf erzählt, als er uns im HDP Büro empfängt: „Warum soll ich hier weg? Ich habe hier meine Tiere und ein Haus, für das ich keine Miete zahlen muss. Hier sind meine Familie und Freunde. In der Großstadt müsste ich mir eine völlig neue Lebensgrundlage aufbauen. Außerdem drehen die Leute dort durch, werden drogenabhängig oder kriminell“. Als Alternative schlägt er vor, drei kleinere Staudämme zu bauen, statt einen großen, der sämtliche Kulturstätten überflutet.

Die Vorsitzenden der HDP in Batman, Rojda Sûrûcû und Abdulbani Karaagag erzählen uns, dass der Staudamm weniger der Stromerzeugung dient, sondern eher dazu, einen Teil der kurdischen Geschichte (und letzten Endes auch eine Teil der Menschheitsgeschichte) zu zerstören. Denn ohne kurdische Geschichte können die Kurd_innen auch keinen Anspruch auf eine eigene Identität erheben.

Mit dem entstehenden Stausee verspricht sich die türkische Regierung außerdem, die Mobilität der in diesem Gebiet fest verankerten PKK einzuschränken und damit einen militärischen Vorteil bei zukünftigen Auseinandersetzungen zu gewinnen.
Doch außenpolitisch hat das Megaprojekt noch wesentlich mehr zu bieten: Mit den zahlreichen Staudämmen, die man mittlerweile auf der türkischen Seite errichtet hat, sind der Irak und Syrien davon abhängig, wie weit die Schleusen geöffnet werden. Der Sultan vom Bosporus versucht gar nicht zu verbergen, in welche Abhängigkeit er die Nachbarstaaten damit bringt. Doch die beiden Regierungen können kaum etwas ausrichten. Der Irak ist seit Jahren destabilisiert und viel zu schwach, um sich gegen die türkischen Projekte erfolgreichen wehren zu können, was auch spätestens seit 2011 auf Syrien zutrifft. Nicht zu vergessen ist auch, dass die Türkei ein NATO-Staat mit großer strategischer Bedeutung ist, weshalb die anderen NATO-Länder durchaus mal beide Augen zudrücken.3Durch die Staudämme wird nicht nur der Lebensraum der Flora und Fauna in der Türkei zerstört, sondern auch die an den Ufern des Tigris und dessen Nebenflüssen. Diese Ströme sind die Lebensadern der Menschen im Irak und Syrien, die – ohnmächtig gegenüber imperialistischer Interventionen – ohnehin in ärmlichen Verhältnissen leben. Sollte der Fluss noch weniger Wasser führen, drohen Hungerkatastrophen in unbekanntem Ausmaß. Gruppen wie der Islamische Staat, Al-Nusra und Co. werden es dann in Zukunft noch leichter haben, für ihren Feldzug gegen die Menschlichkeit Anhänger_innen zu finden.

Neben den verheerenden Folgen für Mensch, Natur und Kultur stellt der Ilisu-Staudamm somit eine weitere, unnötige Provokation in einer ohnehin seit Jahren vom Krieg gezeichneten Region dar. Erneut ruht die Hoffnung der Menschen in Hasankeyf und allen anderen Betroffenen aus dem Irak, der Türkei und Syrien, auf internationaler Solidarität und dem Widerstand der europäischen Genoss_innen. Denn die EU und vor allem Deutschland haben die Möglichkeit, Druck auf die Türkei auszuüben und die Fertigstellung des Staudamms zu verhindern. Sie wollen es nur nicht.

Ein Beitrag von Yannik Hinzmann und Selin Gören. Fotos 1,2: Selin Gören. Foto 3: Yannik Hinzmann.

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