1

Inkompetenz oder Vorsatz? Staatsanwaltschaft behindert Mordermittlungen im NSU-Prozess

Über Jahre hinweg überzieht eine rechtsradikale Terrorgruppe die Bundesrepublik mit Mordanschlägen und niemand bemerkt etwas. So oder ähnlich lässt sich die Geschichte des Nationalsozialistischen Untergrunds und der zuständigen Ermittlungsbehörden zusammenfassen. In den letzten Jahren wirft die Aufarbeitung der Terrorserie immer weitere Fragen auf und ein zunehmend schlechtes Licht auf Polizei, Kriminalämter und Verfassungsschutz.

Nun wurden im NSU-Untersuchungsausschuss im Landtag Baden-Württembergs Tatsachen bekannt, die erneut schwere Zweifel an der Neutralität und Funktionsweise des Rechtsstaats in Deutschland aufkommen lassen.

Am 16. September 2013 verbrannte Florian H., ein Aussteiger der Naziszene bei Heilbronn, in seinem Auto – nur Stunden, bevor er als Zeuge im Mordfall Michèle Kiesewetter befragt werden sollte. Zuvor hatte er als Zeuge im NSU-Prozess mehrfach Aussagen getätigt, die der Ansicht der Staatsanwaltschaft widersprachen. So wies er beispielsweise auf die Existenz einer weiteren rechtsradikalen Gruppe, der „Neoschutzstaffel“ (NSS), hin. Die Ermittler hielten seine Aussagen jedoch nicht für glaubwürdig. Erst kürzlich wurde im NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags bekannt, dass in nachträglichen Ermittlungen des Landeskriminalamts wohl doch ein bekennendes Mitglied jener Gruppierung identifiziert worden sei.

Noch brisanter als dieser Umstand ist jedoch die Tatsache, dass die Polizei den Tod H.s auf Weisung der Staatsanwaltschaft bereits einen Tag später als Suizid deklarierte. Der für die Entscheidung verantwortliche Staatsanwalt, Dr. Stefan Biehl, begründete diese Entscheidung mit dem Fehlen aussagekräftiger Hinweise, die ein Fremdverschulden belegen könnten. Der für hartes Durchgreifen gegen linke Aktivisten und Demonstranten bekannte Staatsanwalt unterband damit die polizeiliche Ermittlungsarbeit, noch bevor sonst übliche Schritte wie die Durchsuchung von H.s Wohnräumen oder die Analyse der Handy-Ortungsdaten abgeschlossen werden konnten. Stattdessen wurde das Autowrack mitsamt Handy und Laptop noch am selben Tag zur Verschrottung freigegeben. Fazit der Staatsanwaltschaft: H. habe sich aus Kummer über die Trennung von seiner Freundin umgebracht. Diese wurde jedoch nie von der Polizei befragt.

Mittlerweile stellte sich heraus, dass selbst die Aussage eines Augenzeugen, der der Polizei noch am Tatort von der Anwesenheit einer zweiten Person an H.s Auto berichtete, ignoriert wurde. Doch auch die Tatsachen, dass H. zuvor bereits mehrfach Drohanrufe bekommen hatte, dass weder seine Auto- noch Wohnungsschlüssel bei ihm aufgefunden wurden, dass kein Abschiedsbrief existierte und dass auch H.s persönliches Umfeld einen Selbstmord für nicht plausibel hielt, konnten Biehl nicht davon überzeugen, dass eine weiter gehende Ermittlung gegebenenfalls angebracht sein könnte.

Dies lässt nur zwei Schlussfolgerungen zu: Entweder agierte die Staatsanwaltschaft geradezu beängstigend inkompetent oder sie behinderte vorsätzlich die Aufklärung eines möglichen Mordes. In jedem Fall untergraben die Geschehnisse weiter das ohnehin geringe Vertrauen in die Unabhängigkeit der Ermittlungen im Zusammenhang mit dem NSU-Terror.

Das bisherige Agieren der deutschen Behörden ist eine Schande, grob fahrlässig und eine Beleidigung für die Angehörigen der NSU-Opfer. Rechtsradikalismus muss endlich als eine zentrale Gefahr für die Gesellschaft erkannt werden. Die Linksjugend [‘solid] Baden-Württemberg fordert daher eine rasche, gründliche und unvoreingenommene Aufklärung der NSU-Morde, die sich nicht mit der Identifizierung einzelner Sündenböcke begnügt, sondern personelle und institutionelle Konsequenzen zu einer effektiven Bekämpfung rechter Strukturen ermöglicht.