Ein eigenes Bild machen von der aktuellen Situation in den Kurdengebieten in Syrien, der Türkei und dem Irak, im Angesichts von IS und Flüchtlingskatastrophen, das war das Ziel einer Delegationsreise des kurdischen Studierendenverbandes YXK. Ein Ziel, welchem von den lokalen Behörden Steine in den Weg gelegt wurden. Dennoch konnte die Delegation einige eindrucksvolle Erfahrungen sammeln. Für die Linksjugend [‘solid] Baden-Württemberg war Yannik Hinzmann mit dabei.
Angekommen in der Türkei und auf dem Weg in die kurdische Autonomieregion im Irak, fällt als erstes die starke Polizei- und Militärpräsenz auf. Über 100 km von der syrischen Grenze entfernt scheint der Zweck dieser Machtdemonstration eine Entmutigung und Bekämpfung der kurdischen Selbstverwaltung und der PKK zu sein. Je näher sich die Delegation der Irakischen Grenze nähert, desto mehr nimmt die Militärpräsenz zu. Zwischenzeitlich nimmt die Gruppe drei Peschmergas auf, die ebenfalls auf dem Weg in den Irak sind. Anscheinend wurden sie vom türkischen Militär trainiert.
Doppelzüngigkeit der KDP
Die Einreise in den Irak läuft sowohl für die Europäer als auch für die Peschmerga-Kämpfer problemlos. Dort geht es weiter nach Erbil. Auf dem Weg dorthin passiert die Gruppe ca. sechs Checkpoints. Die Theorie, die vielen Checkpoints bestünden aufgrund des Krieges bestätigt sich nicht. Im Gegenteil, es heißt, dass vor dem Krieg noch mehr Kontrollen durchgeführt wurden. An einem der Checkpoints wurden sie gefragt, ob sie Araber seien. Als sie verneinen meint ein Peschmerga „Alles klar. Jeder ist willkommen. Außer Araber!“. Jugendliche berichten später, dass das Misstrauen gegenüber Araber mittlerweile sehr groß ist, seitdem in einigen Dörfern um Mossul Araber die Peschmerga um Hilfe riefen, um diese dann gemeinsam mit dem IS aus dem Hinterhalt zu töten.
In Erbil selbst wird an allen Ecken und Enden gebaut. Getragen wird der Bauboom vor allem von privaten Gesellschaften in der Hand des Barzani-Clans. Dennoch herrscht 30% Arbeitslosigkeit in Südkurdistan, auch weil viele Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben werden, die für weniger Lohn arbeiten. Dennoch, für viele Menschen in den großen Städten Südkurdistan, vor allem in Erbil, steht Barzani für Sicherheit und Fortschritt. Je weiter man aber aufs Land kommt, desto mehr nehmen die kritische Stimmen zu. Menschen berichten, dass Barzani vor kurzem Organisationen, die sich mit der Selbstverwaltung in Rojava solidarisiert haben, hat schließen lassen und Demonstrationen gegen Korruption und eine Verbesserung der Lebenslage gewaltsam niederschlagen lies.
Gefragt nach dem Rückzug der Peschmerga trotz Überzahl aus Shengal, berichten die Leute, dass es einen Befehl der obersten Führung gab sich zurück zu ziehen, woraufhin die Offiziere gingen und die Kämpfer folgten. Das hat auch zu Streit in der Führung in der Region geführt, weil die PUK, anders als Barzanis KDP, bleiben und Kämpfen wollte. Die PUK ist es auch, die für eine Zusammenarbeit mit der PKK im Kampf gegen IS eintritt, was aber von der KDP blockiert wird.
Aus dem Nordirak sollte es eigentlich weiter gehen in das von der Außenwelt isolierte Rojava, doch dies wird von den Behörden der Autonomieregion ohne Begründung nicht genehmigt. Stattdessen wird die Delegation von einer Stelle zur nächsten geschickt, eine klassische Hinhaltetaktik. “Es ist unglaublich, dass die KDP verhindert, dass sich Menschen ein unabhängiges Bild von der Situation in Rojava machen.”, empört sich ein Delegationsmitglied.
Dennoch geht die Reise weiter, unter anderem in ein Flüchtlingscamp. Als erstes geht es in das Vorzeigecamp der KDP. Hier gab es Steinhütten und sogar einen Campladen. Der Kontrast zu den eine Stunde entfernten Camps in Semalka könnte deutlicher nicht sein. Dort gibt es zwei Camps, beide je maximal 2 km² groß. In dem, das die Delegation besucht, leben ca. 8200 Menschen, davon 900 Kinder. Die Menschen im Camp sind hier auf sich alleine gestellt, es mangelt an Nahrung, Medizin und Matratzen. Auf den Wegen stapelt sich der Müll, die Müllabfuhr lässt seit Tagen auf sich warten. Die Kinder laufen immer Gefahr beim Spielen aus versehen durch den löchrigen Zaun auf die vielbefahrene Straße zu rennen. Die Menschen im Camp berichten, dass es nicht die Peschmerga sondern die Guerilla-Einheiten der PKK waren, die sie vor dem IS retteten. Nun warten sie darauf, dass die PKK sie erneut aus ihrem Elend erlöst. Einige Familien erzählen auch, wie Töchter versklavt und vergewaltigt, Söhne geköpft und Säuglinge verdurstet sind, auf der dramatischen Flucht in die vermeintlich sicheren Gebiete.
Repression gegen Solidarität in der Türkei
Zurück in der Türkei will die Delegation einen Hilfskonvoi, der nach Rojava fährt beobachten. Obwohl dies ursprünglich genehmigt wurde, ist das Militär sichtlich nervös. Um zu deeskalieren werden nur drei Delegationsmitglieder geschickt, um bei der Umladung der Güter anwesend zu sein, aber auch die werden bald wieder vom Militär verscheucht. Man wolle keine Presse, hieß es. Die Bürgermeisterin der Grenzstadt Nusaybin erzählt, dass seit Beginn der Revolution im Sommer 2012 in Rojava 115 LKWs mit Hilfsgütern die Grenze passieren konnten. Die Hilfsgüter selbst werden vor allem von den Menschen in Nordkurdistan gespendet. Die Koordination übernimmt eine Gruppe aus dem Rathaus, die türkische Regierung selbst tut hingegen nichts.
Weiter geht es die Grenze entlang bis nach Qaramox, einem Dorf nahe Kobane. Auf der türkischen Seite der Grenze haben sich viele Kurden versammelt, die sich mit den Fliehenden solidarisieren. Diese müssen auf der syrischen Seite ausharren, da das Militär sie nicht durch lässt. Stattdessen geht das türkische Militär mit Tränengas gegen die Demonstranten vor. In vielleicht zwei Kilometer Entfernung sieht man, einen IS-Panzer, Mörsergranaten einschlagen und den Kampf um Qaramox. Die Fliehende werden auf Druck der Demonstranten und Verhandlungen durch Abgeordneten der BDP dann doch über die Grenze gelassen. Eine Frau erzählt, dass sie lieber vom türkischen Militär erschossen wird oder auf eine Miene, von denen es an der Grenze mehr als genug gibt, tritt, als dem IS in die Hände zu fallen.
Von der Grenze aus geht es weiter nach Suruc, wo weitere Demonstrationen geplant sind. Die Türkische Staatsmacht geht mit harter Hand gegen die friedlichen Demonstranten vor, dabei wurde auch seitens des türkischen Militärs scharf geschossen. Tränengas und Wasserwerfer werden gezielt eingesetzt, fliehende Demonstranten werden teilweise mit Fahrzeugen verfolgt und angefahren. In der Panik versuchen einige, sich in Busse zu retten. Auch diese werden mit Tränengas beschossen. Mehrere werden verhaftet, viele verletzt. Auch zwei Mitglieder der Delegation werden fest genommen. Nach Stunden kommen sie wieder frei, weil sie Deutsche sind. Beim Verhör wurden sie beleidigt und konnten beobachten, wie gefangen genommene Demonstranten geschlagen werden.
Auch in den folgenden Tagen herrscht das Tränengas. So wird eines Nachts Aligör großflächig mit Tränengas beschossen. Selbst im Haus ist man nicht sicher, da das Gas durch Spalten und Ritzen in die Räume eindringt. Die Straßen sind unpassierbar. Ein 5-jähriges Kind muss ärztlich behandelt werden, da Tränengas in sein Zimmer dringt. Ein paar Tage später wird ein LKW mit Jugendlichen, die zu einer Demonstration an der Grenze wollen von Wasserwerfern beschossen, die statt Wasser mit einer ätzenden Flüssigkeit schossen. Mehrere Demonstranten, aber auch umstehende Kinder, mussten mit Verätzungen ins Krankenhaus gebracht werden.
Und so endete die Reise mit der Gewissheit, dass der Region eine heiße Phase bevor steht und ein erneuter Krieg mit der Regierung droht.