Nach zahlreichen Terroranschlägen herrscht in vielen Ländern Europas Ausnahmezustand – im wörtlichen Sinne. Doch neben aufrichtiger Solidarität bieten die Reaktionen aus Politik und Gesellschaft durchaus Anlass zur Sorge. Nicht wenige versuchen, den nun geforderten internationale Zusammenhalt als Vorwand für die Errichtung eines faschistischen Überwachungsstaates zu missbrauchen.
In den vergangenen Wochen verübte der Islamische Staat mehrere schreckliche Anschläge in vielen Teilen der Welt; ein russisches Passagierflugzeug wurde vermutlich durch eine Bombe zum Absturz gebracht, Selbstmordanschläge erschütterten Beirut und, am vergangenen Freitag, Paris. Seither folgten ein Bombenanschlag in Yola, Nigeria, sowie eine Geiselnahme in Bamako, Mali, vermutlich ebenfalls aus dem Umfeld von IS und Boko Haram.
Insbesondere infolge der Anschläge in Frankreich überschlugen sich in den letzten Tagen die Reaktionen. Zum einen zeigte sich eine Welle der Solidarität mit den Menschen in Frankreich und den Angehörigen der Opfer, die ohne Ansehung ihrer Herkunft oder Weltanschauung getötet wurden. Diese Solidarität ist schön – auch wenn sich natürlich darüber streiten lässt, warum diese bei den Anschlägen in Beirut, Yola oder jenen, die sich immer wieder in anderen Teilen der Welt ereignen, immer wieder ausbleibt.
Auch und gerade als links denkende Personn mag man versucht sein, sich dieser Welle der internationalen Solidarität anzuschließen. “Nie war so deutlich dass es nicht nationale Grenzen sind, die Menschen trennen!” Ein schöner Satz, Balsam für die geschundene linke Seele; ein Satz, den ich so in diesem Text schreiben wollte. Doch auch ein falscher Satz.
Man müsse zusammenrücken und gemeinsam gegen den Terror kämpfen – diese Argumentation klingt nur allzu vertraut. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Feindbild konstruiert wird, um anhand dieser vermeintlichen gemeinsamen Bedrohung zusammenzubringen, was nicht zusammen gehört. Als Paradebeispiel einer solch unrühmlichen Allianz sei nur an George W. Bushs “Koalition der Willigen” während des Irakkriegs verwiesen.
Und während hierzulande zahlreiche Medien mit ihrer hysterischen Berichterstattung weitere Panik verbreiten, nutzen Politiker*innen die vermeintliche “Krise” für ihre Zwecke: Rechtspopulisten wie Horst Seehofer bemühen sich, die Anschläge zu einem Wendepunkt in der deutschen Asylpolitik zu stilisieren. Der Terror soll als Begründung für weitere Einschränkungen des Grundrechts auf Asyl herhalten; Regelungen zu Obergrenzen oder “europaweiten Kontingenten” für Geflüchtete werden derzeit von Union, SPD und selbst weiten Teilen der grünen Grünen unterstützt. Damit werden ausgerechnet diejenigen Menschen, die vor Terrorismus fliehen, die fern ihrer Heimat auf ein Leben in Freiheit und Frieden hoffen, als potentielle Terroristen abgestempelt.
Natürlich ließen auch die üblichen Forderungen nach einer Erweiterung der staatlichen Geheimdienste und ihrer Möglichkeiten zur Überwachung nicht lange auf sich warten. Innenminister de Maizière opfert die Freiheit auf dem Altar der Sicherheit nur allzu bereitwillig. Und schließlich: Die Rufe nach nach militärischer Intervention, nach „Gegen-Gewalt“, nach Rache.
In diesen Rufen zeigt sich deutlich, wie wenig weite Teile der Politik aus den vergangenen Monaten gelernt haben. Wenn die Anschläge der vergangenen Wochen irgendetwas gezeigt haben, dann ist es das Scheitern der bisherigen „westlichen“ Strategie der Terrorismusbekämpfung. Militärische Interventionen haben Terrorismus nicht verhindert, ebenso wenig wie die Vorratsdatenspeicherung (die in Frankreich bereits existiert) oder die weitere Abriegelung der Festung Europa – und werden dies auch künftig nicht tun.
Was eine Woche nach den Anschlägen in Paris bleibt, ist also die Erkenntnis, dass sich etwas Grundlegendes ändern muss an der europäischen Politik. Kurzfristig müssen Waffenexporte gestoppt und Bündnisse mit Diktatoren beendet werden. Legaler Einreisewege für Menschen auf der Flucht bedarf es ebenso wie einer Behebung der massiven weltwirtschaftlichen Gefälle. Doch wenn dies gelingen soll – wenn die Spirale der Gewalt wirklich durchbrochen werden soll – dürfen wir nicht zulassen, dass die internationale Solidarität zum Vorwand wird, um neoimperialistische Gewaltphantasien auszuleben! Mehr denn je müssen wir nun dafür kämpfen, dass sich einige Menschen in Europa zunächst einmal an die eigene Nase fassen!