Während der Pandemie haben wir uns mit dem Thema Bildung und der Auswirkungen der Pandemie auf diese beschäftigt. Um einen besseren Einblick in die Thematik zu erhalten haben wir die Bildungsexpertin Sabine Skubsch interviewt:
Solid im Gespräch mit der Bildungsexpertin Sabine Skubsch
„Coronakrise
und der digitale Fernunterricht verstärken die
Bildungsungerechtigkeit.“
Sabine Skubsch
setzt sich als Gewerkschafterin und als Mitglied des Landesvorstands
der LINKEN Baden-Württemberg gegen die Ungerechtigkeit im
Bildungswesen ein. Im Moment beschäftigt sie sich mit dem
Zusammenhang zwischen der Ökonomisierung und der Digitalisierung der
Schulen. Die promovierte Diplompädagogin arbeitet als Lehrerin an
einem beruflichen Gymnasium.
solid:
Wie würdest du die Bildungssituation in der momentanen
Covid-19-Pandemie einschätzen?
Sabine Skubsch:
Nach den Schulschließungen am 17. März musste improvisiert werden.
Mit völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Viele Lehrer*innen haben
sich total reingehängt, haben versucht, die Schüler*innen mit
Fernunterricht zu beschulen und den Kontakt zu ihnen zu halten.
Schüler*innen, die sich selbst organisieren und digitale Medien für
sich nutzen können sowie die Unterstützung durch die Eltern
erhalten, werden diese Zeit einigermaßen überstehen. Aber vor allem
die Schwächeren drohen abgehängt zu werden. Die
Vorbereitungsklassen für ausländische Kinder sind in
Baden-Württemberg überhaupt noch nicht für den Präsenzunterricht
eingeplant. In manchen Familien fehlen ausreichend funktionierende
digitale Endgeräte oder Medienkompetenz, um sinnvoll am
Fernunterricht teilnehmen zu können. Manche Schüler*innen sind
einfach „verloren“ gegangen.
Die grün-schwarze
Landesregierung hat in dieser Zeit vollkommen versagt. Es fehlen
umsetzbare Vorgaben und Hilfen für die Schulen, wie die Probleme von
fehlendem Internetzugang bis zu unzureichenden Hygienebedingungen
gelöst werden sollen. Das Gespräch mit den Beteiligten –
Gewerkschaften sowie Eltern- und Schülervertreter*innen – hat
CDU-Kultusministerin Eisenmann verweigert.
solid:
Inwiefern hat die Digitalisierung seit dem Pandemieausbruch das
Lernverhalten beeinflusst?
Sabine Skubsch:
Das ist sehr unterschiedlich. Eine aktuelle Untersuchung der PH
Ludwigsburg und der PH Heidelberg zeigt, dass nicht alle Schüler mit
digitalen Verfahren im Fernunterricht zu erreichen sind.
Schüler*innen sehen aber auch Vorzüge darin selbstständig
Arbeiten, sich die Zeit selber einteilen oder länger ausschlafen zu
können. Kinder, die auf eine individuelle Lernförderung angewiesen
sind und wenig familiäre Unterstützung haben, werden oftmals nicht
erreicht.
Probleme bereiten
auch die unterschiedlichen Wege der Kommunikation (Mail,
Messengerdienste, Chatprogramme oder Videochatprogramme wie zoom,
Skype Microsoft teams usw.), die von Lehrkraft zu Lehrkraft variieren
können.
Gerade hat der
Bildungsbericht 2020 bestätigt, dass sich die digitalen Kompetenzen
der Jugendlichen nach sozialer Herkunft unterscheiden. Der
Unterschied liegt nicht im Zugang zu Internet und digitalen Geräten;
auch das Nutzungsverhaltens und die Einstellungen sind ähnlich. Aber
ein großer Anteil von Achtklässlerinnen und Achtklässlern (33%)
sind lediglich in der Lage, äußerst einfache digitale Informationen
zu verarbeiten z. B. einen Link anzuklicken. Gymnasiast*innen
erreichen dagegen ein deutlich höheres Niveau computer und
informationsbezogener Kompetenzen, obwohl sie seltener digitale
Medien für schulbezogene Zwecke nutzen.
Solid:
Gibt es ein einheitliches Leitbild für die digitale Bildung oder
sind Schulen und Universitäten auf sich selbst gestellt? Gab es
bereits vor der Pandemie Richtlinien dafür?
Sabine Skubsch:
Über die Ziele und die Methoden digitaler Bildung wird vor allem in
Foren diskutiert, die von der IT-Branche selbst organisiert werden.
Die Bertelsmannstiftung oder Zusammenschlüsse der digitalen
Wirtschaft wie BITCOM finanzieren Tagungen und Studien. Geld genug
haben sie dafür, da ja die IT-Riesen wie Google, Apple, Microsoft
usw. fast keine Steuern zahlen. Weil der Staat aber zu wenige Steuern
einnimmt, fehlt das Geld für unabhängige Bildungsforschung. In
diese Lücke springen dann die Stiftungen der IT-Konzerne. Sie
treiben die Politiker*innen vor sich her. Ihre Botschaft: die
sofortige „Digitalisierung“ der Schule sei notwendig, sonst würde
die deutsche Wirtschaft der ausländischen Konkurrenz unterliegen.
Die FDP hat das banal zusammengefasst „Digital first, Bedenken
second.“ Die IT-Konzerne verdienen immer.
Bitcom-Präsident
Berg – Lobbyist der IT-Branche – jubelt, dass die Coronakrise den
Schulen Digitalisierung beigebracht hätte. Man solle jetzt nicht den
Fehler machen „überhastet wieder in den alten Unterrichtsmodus
zurückzukehren“, sondern auf „hochwertige und für alle
zugängliche digitale Bildungsangebote“ setzen. Die Krise zeigt
aber, dass vor allem die Schüler*innen aus sozial schwächeren
Milieus durch den Fernunterricht weniger erreicht werden.
Es gibt kaum eine
öffentliche Diskussion darüber, welche Bildungsziele wir mit
Digitalisierung fördern wollen. Wollen wir Kinder dazu erziehen,
dass sie ihre Lust am Lernen behalten, und dass sie mit den
Herausforderungen einer sich rasch verändernden Welt gut umgehen
können? Oder wollen wir, dass die Schüler*innen passgenau den
Anforderungen des Arbeitsmarktes genügen und dort gegenüber den
„Konkurrenten“ im Vorteil sind?
solid:
Wie würdest du den Unterschied zwischen digitalem und analogem
Unterricht beschreiben?
Sabine Skubsch:
Bei beidem kommt es darauf an, was man erreichen will. Man kann
digitale Methoden so einsetzen, dass die Schüler*innen von einer
Maschine abgerichtet werden. Der Computer registriert die
Aufmerksamkeit, das Lerntempo usw. und „optimiert“ den Schüler
entsprechend. Das Ergebnis ist der perfekt konditionierte zukünftige
Arbeitnehmer, der eventuell noch einige Jahre besser oder zumindest
billiger arbeitet als ein Computer. Im digitalen Unterricht kann aber
auch gelernt werden, wie Programmierung bzw. Künstliche Intelligenz
funktioniert. Damit die Kinder ein Bewusstsein entwickeln können,
was die Maschine kann und was nicht. In einem solchen Unterricht
werden Schüler*innen befähigt mitzuentscheiden, wofür wir
zukünftig KI einsetzen wollen.
solid:
Schon vor der Pandemie und der mit ihr einhergehenden Digitalisierung
des Unterrichts gab es soziale Benachteiligung. Könnten diese durch
fehlende technische Ausstattung der Bildungseinrichtungen und der
Familien verstärkt werden?
Sabine Skubsch: Gegen die soziale Spaltung hilft
nur eine ausreichende Finanzierung des öffentlichen Schulwesens mit
einer Ganztagesschule für alle. Gymnasien müssen bis zum Ende der
10. Klasse abgeschafft werden. Selbstverständlich müssen
Schulessen, Schulweg und technische Ausstattung wie Tablets oder PCs
kostenfrei sein. Die soziale Schieflage des Bildungssystems darf aber
nicht auf die Frage der Tablets reduziert werden. Es geht vor allem
darum, wieviel Zeit die Lehrkräfte für wieviel Schüler*innen
haben. In den „Problemschulen“ müssten mindestens zwei
Lehrkräfte für eine Klasse da sein. Der Unterricht sollte ganztags
sein und zwar so, dass die Schüler Lust haben dort zu sein.
Digitalisierung kann Gutes und Schlechtes bewirken. Wer gerne mit
anderen gemeinsam arbeitet, findet in den digitalen Medien hilfreiche
Verstärkung. Kreative aufgeweckte Jugendliche können mit digitalen
Medien viel anfangen. Kinder, die aber schon immer viel vor dem
Fernseher saßen, verbringen noch mehr Zeit vor Spielkonsolen,
Netflix u.a. Wer anfällig für Beeinflussung und
Verschwörungstheorien ist, kann durch digitale Medien noch stärker
manipuliert werden.
solid:Die Krise hat den Umgang mit
digitalen Medien im Bildungssystem stark beeinflusst. Gibt es nun die
Chance digitale Bildung als Standard zu etablieren oder ist sie nur
eine Behelfslösung?
Sabine
Skubsch: Die Krise forciert die Einführung digitaler
Medien für den Fernunterricht. Aber ich sehe darin auch eine Gefahr.
Erstens gibt es zu wenig Geld für Bildung. Zu befürchten ist, dass
den IT-Konzernen noch weiter die Tür zu den Schulen aufgemacht wird,
weil Schulen bei der Umsetzung der Digitalisierung einfach auf
privatwirtschaftliche Unterstützung angewiesen sind.
Google, Microsoft,
Apple und Co zahlen fast keine Steuern in Europa. Dieses eingesparte
Geld nutzen sie dazu, mittels Stiftungen Einfluss auf die
Bildungsinhalte und natürlich auch auf die Hard- und
Softwareausstattung der Schulen zu bekommen.
Ich sehe die Gefahr,
dass die Digitalisierung diese Spaltung weiter verschärft. Ein Blick
in die USA zeigt, dass die Kinder Privilegierter in mit gutem
Lehrpersonal ausgestatteten Universitäten gefördert werden, während
die weniger Betuchten oft mit Online-Kursen vorlieb nehmen müssen.
Wir wollen eine Schule, die alle in digitalen/Hightech Inhalten
genauso wie in kreativen, musischen und sozialen Inhalten bildet.
solid:Ist digitale Bildung für alle
möglich, ohne dass Internetzugang und technische Ausstattung
kostenfrei sind?
Sabine
Skubsch: Freier Internetzugang ist ein Menschenrecht.
Davon dürfen arme Familien nicht ausgeschlossen werden. Natürlich
müssen Lernmittel öffentlich finanziert werden. Jede Schüler*in
und jede Lehrkraft braucht ein eigenes digitales Gerät! Außerdem
brauchen wir leistungsfähigen Breitbandanschluss und WLAN für alle
Schulen sowie mehr Lehrerfortbildung in Medienkompetenz und
unabhängige Bildungsforschung zu Digitalisierung.