Du gondelst durch die Zeit. Langsam, aber sicher. Oder besser: sicher, aber langsam. Du weißt, was zu tun wäre, aber du tust es nicht. Andere sind da eifriger. Entwerfen Pläne, analysieren, vermessen, kategorisieren jedes weltliche Phänomen. Arbeiten 12 Stunden im Büro, plus zwei Stunden im Zug. Akkumulieren, akquirieren, investieren, regulieren, balancieren. Du schiebst dir ne Tiefkühlpizza rein, im Fernsehen verändert sich die Welt. Alles wird durchgängig neu erfunden und dekonstruiert. In den Jahrzehnten, die du statistisch gesehen noch leben wirst, kannst du wie ein Beobachter zusehen, wie die Erde komplett umgepflügt, ausgemistet und mehrere tausend Male hintereinander an der Börse verkauft wird.
Was machst du? Du joggst, du isst, du fährst Bahn, dir reist die Lidl Tasche. Ein ganz schön unbedeutendes Knäuel kleiner Widersprüche. Sinnlos, wie die Religion und für die Politiker eine Masse, die man kneten und verarbeiten kann, wie man sie gerade braucht. In der Ökonomie bist du so unwichtig, dass man dich sogar auf eine bloße Zahl reduziert. Was soll das? Bist du nicht der stolze Homosapiens, der seit mehr als zehntausend Jahren gangnam style auf der Bühne der Weltgeschichte tanzt? Du hast immerhin Tiere ausgerottet, Feuer gelegt und die Erde umrundet. Warum behandelt man dich also nicht als Helden? Wir identifizieren uns gerne mit den Errungenschaften der Menschheit, aber wir sind eben leider nicht der stolze Homosapiens, dem Respekt für Innovation und Kreativität gebührt.
Den Kollegen, der das Feuer erfunden hat und Mongoliden errichtete, unterscheidet etwas Entscheidendes von dir und mir. Dieser mächtige Mensch war Schöpfer seiner eigenen Welt. Er manifestierte seinen Geist direkt durch seine eigenen Handlungen. Umgekehrt verarbeitete er seine Handlungen unmittelbar auch durch seinen Geist. Einen Widerspruch zwischen Geistigem und Praktischem gab es für solche Menschen nicht. Idee und Umsetzung, Fantasie und Realität, lagen natürlicherweise zusammen. Aber all das änderte sich mit der Arbeitsteilung. Sie gruppiert Menschen wie Zahnräder einer Maschine. Unsere Gesellschaft verfügt über ein Gehirn von Politikern und Intellektuellen, ein Nervensystem der unterschiedlichsten Kommunikationsmittel, einer eigenen Schublade für Kreativität namens Kunst und dicke, schwere Arme und Beine, die ihre Arbeit wie automatisch auf Befehl des Hirns verrichten. Es gibt Menschen, die auf Zahlen abgerichtet sind. Menschen, die auf Sex abgerichtet sind. Andere machen ihr ganzes Leben nur Autos oder Bonbons oder Waffen. Darüber stehen eine Vielzahl von Menschen, die ständig nur planen und denken, ohne je selbst Pläne und Gedanken zu verwirklichen. Diese Arbeitsteilung führt zu mehreren Problemen.
Erstens: Arbeiter vereinseitigen. Die geistigen Fähigkeiten eines Handarbeiters verkümmern und vice versa beim Kopfarbeiter. Ein Kopfarbeiter muss, zumindest während der Arbeitszeit, seine geistigen Fähigkeiten überstrapazieren und die körperlichen Impulse unterdrücken. Die Arbeitsteilung erzeugt also notwendigerweise Unterdrückung. Entweder, die Individuen bringen eine erhebliche Selbstdisziplin auf und strapazieren und unterdrücken sich selbst, oder die Leiter der gesellschaftlichen Arbeitsorganisation setzen diese Disziplin gegen den Willen der Arbeiter durch. Dies wurde geschichtlich zunächst von der Sklaverei, dann durch das Feudalsystem und schließlich durch den Zwang zum Geld verdienen im Kapitalismus übernommen. Die Arbeitsteilung benötigt psychische und gesellschaftliche Strukturen, die also den einzelnen konkreten Menschen mit Füßen treten für ein großes Ganzes, indem irgendwie niemand so richtig glücklich ist.
Zweitens: Die Notwendigkeiten der Arbeit bilden eine gute Grundlage für sinnvolle, moralische Prinzipien. In der Arbeitsteilung aber ist diese Moral logischerweise gegen den Einzelnen gerichtet. Hinzu kommt, dass die Arbeitsteilung die Moral aufspalten muss. Ein Schreiner hat andere “Musts and Don’ts” für seine Arbeit wie ein Schauspieler. Während für den Schreiner frühes Aufstehen zu einem Grundsatz werden könnte, würde ein Schauspieler vielleicht Empathie zu einem wichtigen Leitsatz erheben. Die Arbeitsteilung zersplittert die gesellschaftliche Einheit also nicht nur ökonomisch, sondern auch moralisch. Dabei geht oft beides Hand in Hand. Den Finanzantrag für einen Workshop über Empathie würde mancher Schreiner ablehnen, weil “die eh nichts Rechts schaffen”. Schon haben wir einen handfesten Streit um Geld, geführt mit moralischen Argumenten.
Drittens: Die arbeitsteilige Gesellschaft benötigt die produktive Einheit all der konkurrierenden Individuen und Gruppen. Sie muss einen Apparat bauen, der im Gegensatz zu den entfremdeten Menschen die Gesellschaft aus der Vogelperspektive betrachtet und die unterschiedlichen Interessen vereinen kann. Hier diktiert die Herrschaft jedem Lebensbereich unabhängig von den vorherrschenden Arbeitsnotwendigkeiten zentrale Normen, Werte und Gesetze. Der Mensch, der sich als Individuum in der arbeitsteiligen Maschine verloren hat, verliert sich als entfremdetes Individuum erneut in den abstrakten Welten der zentralen, gesellschaflichen Institutionen. An dieser Stelle gibt es für den Arbeiter scheinbar keine Lösung mehr. Seine Arbeit selbst ist sein größter Feind geworden, aber bitterste Notwendigkeit. Und auch, wenn er diesen Widerspruch überwindet, indem er die Identität des Schreiner, Schauspielers, Soldaten, seinen eigenen wirklichen Empfindungen überstülpt, findet er in der zentralen, gesellschaftlichen Moral seinen nächsten unbesiegbaren Widersacher, denn diese Moral ist unumgänglich durch die Zersplitterung, die der Arbeiter sich zur Identität gemacht hat und der zersplitterte Arbeiter wird der Maschine niemals überlegen sein.
Wir haben heute einen Punkt erreicht, an dem all dies immer unnötiger wird. Eine radikale Arbeitszeitverkürzung und vielfältiges Arbeiten sind längst technologisch möglich. Wofür eine mega effiziente Arbeitsteilung, um dann für die Müllhalde zu produzieren? Wir müssen nicht effizient um jeden Preis sein. Wir könnten die Daumenschrauben der Arbeitsteilung erheblich lockern. Statt in einen Beruf gesteckt zu werden, könnten Menschen ihr Leben lang lernen. Berufswelten würden sich verknüpfen und Horizonte erweitern. Man könnte außerdem jedem Individuum die Zeit geben, seine individuellen Projekte, die man heute manchmal Hobbys nennt, zu verfolgen, die nicht selten der Gesellschaft auf geniale Art und Weise zugute kommen könnte. Die normalen Menschen hätten endlich die Möglichkeit, sich politisch ausreichend zu bilden und so könnte eine lebhafte Demokratie entstehen. Alles, was man uns geben muss, ist Zeit. Und wir brauchen diese Zeit jetzt! Ich persönlich habe nämlich etwas ganz anderes vor, als mich ein Leben lang von einem sogenannten Beruf entfremden zu lassen. Ich will arbeiten. Diszipliniert und frei, individuell und kollektiv, praktisch und geistig, kreativ und präzise. Denn all diese Begriffe sind keine Widersprüche. Wir denken nur, dem wäre so, weil man uns verboten hat, beides gleichzeitig zu leben.